Tod, Sterben und der Kreislauf des Lebens (Newsletter 10/23)

Letztes Jahr habe ich einen jungen Mann kennengelernt. Er arbeitet bei der Servicehotline meines IT-Anbieters und hat mir bei einem technischen Problem geholfen. Er stolperte über den Namen „Zum goldenen Hasen“ und wir kamen ins Gespräch.

„Na also, Bücher mag ich ja nicht. Lesen war nie so meins. Ist mir zu kompliziert, das Geschwafel darin.“ So weit, so üblich. „Aber wissen Sie was? Es gibt da ein Gedicht. Mit einem besonderen Satz. Der hat mir mal das Leben gerettet: Stirb und werde!“

 Dann erzählte er mir, dass er eine schwere, dunkle Zeit hatte in seinem Leben. Er nicht weiter wusste, nicht rauskam aus seinem Gedankenkarussell. Bis zu dem Punkt, an dem er nicht mehr leben wollte. Und an dem er über diesen Satz stolperte, der ihm Mut gemacht hat: „Stirb und werde!“. Er hat die Worte des Gedichtes nicht erinnert, aber seine Bedeutung. Es geht um die Sehnsucht nach dem Leben. Das hat ihn so begeistert. Für ihn bedeutete es, dass er die Vergangenheit ruhen lassen muss, um aus dieser verzweifelten Phase neu geboren zu werden. Dass es auch für ihn im Leben irgendwie weitergeht. Dass auch er hoffen durfte – und vor allem wollte. Und in dem Moment hat sich in seinem Herzen eine kleine Tür geöffnet. Und zu seiner Verzweiflung gesellten sich auf einmal auch wieder Lebensmut, Zuversicht und Selbstvertrauen. „Stirb und werde!“ Auf die Dunkelheit folgt das Licht. „Der Satz hat mich umgehauen und mein Leben in eine andere Bahn gelenkt. Seitdem bin ich dem alten Goethe auf immer dankbar, dass er dieses Gedicht geschrieben hat.“

 
Selige Sehnsucht
Sagt es niemand, nur den Weisen,
Weil die Menge gleich verhöhnet,
Das Lebend’ge will ich preisen,
Das nach Flammentod sich sehnet.
 
In der Liebesnächte Kühlung,
Die dich zeugte, wo du zeugtest,
Überfällt dich fremde Fühlung,
Wenn die stille Kerze leuchtet.
 
Nicht mehr bleibest du umfangen
In der Finsternis Beschattung,
Und dich reißet neu Verlangen
Auf zu höherer Begattung.
 
Keine Ferne macht dich schwierig,
Kommst geflogen und gebannt,
Und zuletzt, des Lichts begierig,
Bist du Schmetterling verbrannt.
 
Und so lang du das nicht hast,
Dieses: Stirb und werde!
Bist du nur ein trüber Gast
Auf der dunklen Erde.
 
Johann Wolfgang von Goethe

 

An dieses Gespräch habe ich mich bei der Vorbereitung der Shopöffnung im Oktober zum Thema Tod, Sterben und der Kreislauf des Lebens oft erinnert. Weil es zeigt, wie Gedichte und das gesprochene und geschriebene Wort Berge versetzen, die Welt gestalten und Leben verändern können. Nicht umsonst werden Bücher verbrannt, wenn die Worte darin zu mächtig sind. Zum anderen aber auch, weil mir dieser mittlerweile fröhliche, kompetente und aufrichtige Mann bewusst gemacht hat, dass nach dunklen Kapiteln in unserem Leben wieder Licht kommt. Und dass beides in unser Leben gehört. Das Licht, das Schöne, die Freude. Und die Dunkelheit, das Grausame, die Trauer.

 

Die Liebe und der Tod sind zwei der mächtigsten Lehrmeister in unserem Leben und für die Vertiefung unserer Menschlichkeit. Doch wo wir tausende Bücher, Lieder und Filme über die Liebe finden, fristet der Tod ein anderes Dasein. Er wird nicht besungen, nicht gefeiert, nicht respektiert als Teil unseres Lebens. Er wird verdrängt, hinter geschlossenen Türen abgehandelt, bitte alles möglichst leise und so, dass es die allgemeine Geschäftigkeit nicht stört.

 

Doch das macht dem Tod Gar nichts. Er lebt seine Aufgabe. Er kommt - manchmal ohne Vorwarnung - vorbei und nimmt alle und alles, dessen Zeit gekommen ist. Manchmal besucht er uns auch nur kurz und ruft sich in unser Gedächtnis. Wenn wir krank sind oder Unfälle haben. In denen es uns kalt den Rücken herunterläuft, wenn wir daran denken, was hätte passieren können. Wenn wir eine Beerdigung im Fernsehen sehen und überrascht sind von dem Kloß in unserem Hals. Wenn wir hören, dass wir unser Testament machen sollten – und den Gedanken schnell beiseiteschieben und uns lieber darüber Gedanken machen, wohin wir in den Urlaub fahren. Der Tod ist ein mächtiger, natürlicher und wichtiger Teil unseres Lebens. Er betrifft uns alle und wir alle wissen, dass wir im Laufe unseres Lebens mit ihm in Berührung kommen. Und den Gefühlen, die er mit sich bringt. Wie Trauer, Verzweiflung und Wut. Aber auch Liebe, Hoffnung und Dankbarkeit.

Trotzdem tun wir alles, um ihm aus dem Weg zu gehen. Und verpassen dabei so viel. Uns ein eigenes Bild zu machen. Zu lernen, wie wir mit Trauer umgehen können. Zu begreifen, was wirklich wichtig ist in unserem Leben. Nicht, weil wir den Tod mit dem Kopf verstehen. Sondern weil wir die Endlichkeit und Kostbarkeit des Lebens in unserem Herzen spüren und in unseren Knochen erinnern.

Ich finde es vielleicht nicht angenehmer - aber doch mutiger, lebensbejahender und am Ende auch schöner, wenn wir uns mit dem Tod vertraut machen. Letztes Jahr habe ich die Hamburger Schauspielerin Nicole Wellbrock besucht. Mit ihrem Bühnenprogramm „Möge die Erde tanzen!“ hat sie zusammen mit ihrem Kollegen Haye Graf eine Ode an den Tod geschaffen. Nachdem sie sich, aus ihrer ganz persönlichen Geschichte heraus, lange beschäftigt hat mit dem Thema, hat sie einen neuen Zugang dazu gefunden. „Natürlich bin ich immer noch traurig, wenn jemand stirbt. Aber mein großer Schrecken vor Tod und Beerdigungen, der ist vorbei.". Und als sie das Buch „Was man von hier aus sehen kann“ von Mariana Leky liest, ist das die Initialzündung für ihr Bühnenprogramm. „Da habe ich mich entschlossen, das Thema Tod weiterzutragen und publik zu machen. Weil ich es so wichtig finde, dass möglichst jeder einen guten Umgang damit hat." Und für mich wiederum war dieses wundervolle Gespräch mit Nicole die Initialzündung, dem Thema in Form von Büchern und Geschichten mehr Raum zu geben. Deshalb findet ihr am kommenden Wochenende im Goldenen Hasen unsere Lieblingsbücher, um euch bekannter zu machen mit dem Thema Sterben, dem Tod und dem Kreislauf des Lebens.

Kommt vorbei, stöbert durch unsere Bücherauswahl und lest, was euch bewegt. Und vielleicht hilft es euch daraufhin andere Gespräche zu führen, eure Gefühle besser fühlen zu können und ein versöhnlicher es Bild zu bekommen, um den Tod ein wenig mehr ins Leben einzuladen.